Gottes Weisheit
Die Taten des Menschen unterteilen sich in zwei Gruppen.
Die erste Gruppe wird von den Taten gebildet, die umsonst,
sinnlos und nutzlos sind und zum Erlangen von Vollkommenheit
innerhalb unserer Kapazität keine Hilfe sind. Sie bringen uns,
anders ausgedrückt, keine wahre Glückseligkeit. Die zweite
Gruppe besteht aus weisen, vernünftigen, geistvollen Taten,
die zu brauchbaren, vorteilhaften Ergebnissen führen und uns
hin zur Vervollkommnung führen, die wir verdienen. So sind es
die weisen Taten, die uns zu der Vollkommenheit bringen, die
wir wert sind.
Die Frage stellt sich nun in Bezug auf Gottes weise Taten.
Sind Gottes weise Taten ebenfalls dergestalt, daß sie ihn zu
einer letzten Vollkommenheit bringen, und seine sinnlosen
Taten, daß sie ihn nicht dorthin leiten? Die Antwort darauf
muß negativ ausfallen, denn Gott genügt sich selbst. Alle
Taten Gottes gehören der Weisheit, Großzügigkeit und Gnade. Er
vollbringt seine Taten nicht, um seine Bedürfnisse zu
befriedigen, um sich zur Glückseligkeit und Vollkommenheit zu
verhelfen, sondern, um seine Geschöpfe zu der Vollkommenheit
zu, bringen, die ihnen gebührt. Schreibt man Gott unsinniges
Handeln zu, so bedeutet das, daß er Geschöpfe erschafft, ohne
sie zu der Vollkommenheit hinzuführen, die sie verdienen. Die
Bedeutung der Weisheit Gottes unterscheidet sich aus diesem
Grunde von der des Menschen. Unsere Weisheit bedeutet: dem
richtigen Pfade folgen, hin zur menschlichen Vollkommenheit;
Gottes Weisheit dagegen bedeutet: die Kreatur führen, hin zur
verdienten Vollkommenheit. Anders ausgedrückt: Die Weisheit
Gottes bedeutet Erschaffung der Dinge auf der Grundlage der
Rechtleitung hin zu dem erwünschten Ziel und der gebührenden
Vollkommenheit. Da Weisheit für den Menschen die Erfüllung
seiner Aufgabe bedeutet und die Annäherung an seine eigene
Vollkommenheit bedeutet, besteht keine Notwendigkeit einer
Verknüpfung seiner Taten mit deren beabsichtigten
Konsequenzen, d.h. es ist nicht notwendig, daß die Tat auch
unbedingt in der Konsequenz münde, und daß diese Konsequenz
als vollkommene Erfüllung der Aufgabe betrachtet werde. Die
Konsequenz sollte notwendigerweise in der Vervollkommnung der
Menschheit und dem Nutzen für sie resultieren. Ein Mensch
stellt beispielsweise aus Ton, Holz, Metall, Tierhäuten, Wolle
und Baumwolle Gegenstände her, die er weise nutzt. Er macht
daraus Stühle, Häuser, Autos und Kleidung, die nicht die
Vollkommenheit für das Holz, den Stein, den Beton, den Stahl
oder die Metallteile sein müssen. Diese Materialien bewegen
sich nicht auf diese Formen und Gestalten zu, aber sie bieten
Vorteile für einen wie das Sitzen auf dem Stuhl, das Leben in
einem Haus, das Chauffieren eines Autos und das Tragen von
Kleidern. Das bedeutet für den Menschen Erfüllung seiner
zumindest wohltätigen Aufgabe.
Im Gegensatz dazu stehen nun Gottes Taten und deren
Konsequenzen in wahrer, natürlicher Beziehung zueinander.
D.h., Ziel und Ergebnis jeder Aufgabe bedeutet zugleich
wirkliche Vollkommenheit der Aufgabe selbst. Gott leitet seine
Schöpfung zu ihrer eigenen Vollkommenheit hin. Dadurch
beobachten wir, daß jedes Samenkörnchen sich auf sein letztes
Ziel und seine letzte Vollkommenheit hin bewegt.
Das Problem, das an dieser Stelle zu besprechen ist, ist,
daß Welt und Natur Revolutionen durchmachen und unstet sind,
d.h. daß jedes Ziel innerhalb der Natur veränderbar und in
sich selbst instabil ist. Anders ausgedrückt - alles ist
vergänglich, zeitlich gebunden und beendbar. Alle Stationen
innerhalb der Natur sind gleich Haltestellen, und keine ist
die Endstation. Aus diesem Grunde finden viel die Schöpfung
bedeutungslos und sinnlos. Sie vergleichen die Welt mit einer
Karawane, die pausenlos unterwegs ist und von Karawansarai zu
Karawansarai zieht und doch nie ihren Bestimmungsort erreicht.
Jede Station ist nur wie ein Halt, wie ihn auch die Natur
passiert. Offensichtlich ist, daß eine Reise nur dann
unternommen werden kann, wenn ein wirkliches Ziel in Aussicht
steht. Bewegungen und Reisen sind sinnlos, wenn es keine
Ankunft gibt und alle Zielorte nur Haltestellen sind. So wäre
die Existenz unsinnig und das, was die Weltordnung beherrscht,
wäre nur Wanderschaft, konstante Wiederholung, Abreise und
Ankunft eine nach der anderen. Die Erklärung, die uns der
Heilige Qur’an gibt, lautet, dieses Problem und Zweifel
solcher Art würden entstehen, wenn außer der Natur und dieser
Welt nichts wäre und die Geburt nur dem Zweck des Sterbens und
jedes Wachsen und Blühen nur dem des Verdorrens und jede
Erneuerung dem des Verhaltens gälte. Eine solche
Lebensanschauung offenbart "unvollkommene Einsicht", wenn man
meint, das Leben beschränke sich auf Welt und Natur, was nicht
der Fall ist.
Diese Welt wird dargestellt als "erster Tag", dem der
letzte Tag folgen wird. Diese Welt bedeutet "Abreise", und die
Auferstehung "Ankunft". Imam Ali (a.s.) sagt:
"Die Welt ist ein Ort, den wir hinter uns lassen, und die
Auferstehung der einer ewig währenden Residenz."
Die Auferstehung verleiht dieser Welt ihre Bedeutung, denn
Bewegung und Kampf ohne Ziel wäre bedeutungsleer. Gäbe es
keine Auferstehung, eine ewig währende, unvergängliche Welt,
so besäße die Welt keine Endstation, die sie von einer bloßen
Durchgangsstation, einer Haltestelle unterschiede. Das ganze
Weltsystem wäre reine Wanderschaft, und, wie der Heilige
Qur’an es ausdrückt: Die Schöpfung wäre "eitel", "zwecklos",
"keiner Beachtung wert". Die Propheten (a.s.) sind dazu
erschienen, uns von diesem fundamentalen Fehler abzuhalten und
uns die Augen für eine Tatsache zu öffnen, die unser Leben,
entgeht sie unserer Beachtung, bedeutungsleer und vergebens
macht, so daß sich die Sinnlosigkeit in unseren Geist
einschleicht und sich dort einnistet, die uns selbst zu
unbrauchbaren, bedeutungslosen Geschöpfen ohne Lebensziel
werden läßt. Eine der Wirkungen des Glauben und der
Überzeugung vom Tag des Gerichts ist die, daß er uns aus dem
Zustand der Nutzlosigkeit und des Nichtsseins errettet und
uns, unseren Gedanken und unserem Leben Sinn verleiht.