Divan der persischen Poesie
Divan der persischen Poesie

Blütenlese aus der persischen Poesie, mit einer litterarhistorischen Einleitung, biographischen Notizen und erläuternden Anmerkungen.

Herausgegeben von Julius Hart.

1887 n.Chr.

Inhaltsverzeichnis

Divan der persischen Poesie

Sadi

Aus dem Bostan. Zweite Abteilung: Vom Wohlthun

Abraham und der Feuerdiener

Kannst du's, laß nie vom Mitleid ab dich lenken,
Wer Mitleid schenkt, dem wird man Mitleid schenken.
Sei stolz nicht darauf, daß du gütig bist,
Weil du so hoch, ein andrer niedrig ist;
Getroffen ward er von des Schicksals Streichen,
Kann dich des Schicksals Schwert nicht auch erreichen?
Siehst Tausende du flehn nach deiner Huld,
Dem Herrn bezahle du des Dankes Schuld,
Daß sich nach dir die Augen vieler wenden,
Und nicht dein Auge blickt nach and'rer Händen.
Die Großmut, sagt' ich, sei der Großen Ruhm:
Nein, sie ist der Propheten Eigentum.

In einer Woche war, wie ich vernommen,
Kein Wandrer einst zu Abraham gekommen.
In edelm Sinn aß früh er nichts allein,
Es kehrte denn ein Armer bei ihm ein.
Er ging hinaus, um hin und her zu spähen,
Da sah er an dem Rand der Wüste stehen
Gleich einer Weide einsam einen Greis,
Des Hauptes Haar vom Schnee des Alters weiß.
Er wandte zu ihm grüßend seine Schritte,
Und lud ihn ein, wie es der Edeln Sitte:
»O meiner Augen Stern, geliebter Mann,
Nimm Brot und Salz doch gütig bei mir an!«
Er sagte zu und folgte dem Geheiße;
Wohl kannte er des Hochgepries'nen Weise.
Von Dienern ward, wie Gästen es gebührt,
Der arme Greis zum Ehrenplatz geführt;
Dann brachten sie den Tisch mit Trank und Speise,
Und alle setzten sich darum im Kreise.
Als man: »Im Namen Gottes!« drauf begann,
Vernahm kein Wort man von dem alten Mann.
»O Greis,« sprach Abraham, »das lange Leben
Hat dir der Greise Andacht nicht gegeben!
Erfordert nicht die Pflicht, daß, wenn man speist,
Man auch den Herrn der Speise dankend preist?«
»Von deinem Pfad,« sprach er, »bleib' ich entfernet,
Das hab' ich bei dem Magier nicht gelernet.«
Da ward der heilige Prophet gewahr,
Daß er ein schlechter Feuerdiener war;
Verächtlich jagt er fort ihn von den Seinen;
Was unrein, ist ein Greuel für die Reinen.
Der Engel kam vom Herrn der Welt sofort,
Und sprach mit strengem Vorwurf dieses Wort:
»Ich hab' ihn hundert Jahre wohl getragen,
Mußt du mit Abscheu ihn sogleich verjagen?
Hebt er zum Feuer auch des Flehens Blick,
Warum ziehst du der Güte Hand zurück?«

Karl Heinrich Graf

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