Gedichte im Islam
Salomos Wind und der Todesengel

von Dschalaleddin Rumi, aus dem Mesnewi übersetzt von Georg Rosen

Zur Morgenzeit trat einst ein edler Gast
Mit banger Eil’ in Salomos Palast,
Aus Gram sein Antlitz bleich und blau sein Mund; -
Der König sprach: „was ist dir? Tu’ mir’s kund!“
Er sprach: „Es sah, im Auge wilde Gier,
Der Todesengel Asrael nach mir.“
Der König sprach: „Was soll ich tun? Verkünde!“
Er sprach: „O Seelenhort, befiehl dem Winde,
Dass er nach Indien alsobald mich bringe,
Ob dort vielleicht zu leben mir gelinge!“

So find’t der Mensch, der vor der Armut bang
Sich scheut, in Geiz und Gier den Untergang.
Der Armutsscheu glich jenes Manns Erbeben,
Es glich sein Indien solchem nicht’gen Streben.

Und über Land und Meer trug ihn sofort
Der Wind nach Indien auf das Königs Wort.
Im Ratsaal aber sprach am andern Tage
Der König zu dem Todesengel: „Sage,
Was schautest du so grimm nach jenem Frommen,
Dass ihm die Angst das Leben fast genommen?“
Er sprach: „Nicht grimm hab’ ich ihn angesehn,
Verwundert nur sah ich am Weg ihn stehn,
Da für denselben Tag mir Gott befohlen,
Aus Indien seine Seele herzuholen.
Ich sprach erstaunt: Und hätt’ er hundert Schwingen,
Gar weit ist’s, heut bis Indien noch zu dringen!“ –

Was alles ird’sche Tun, hiernach ermiss es!
Mach’ klar dein Auge und zum Sehn erschließ’ es!
Vermagst du je dir selber zu entfliehn,
Sündhaft dich dem Allmcht’gen zu entziehn?“

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